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von Die letzte Hjaldingerin » 04.02.2014, 05:40
Szene 2: Diener des Namenlosen
Ort und Zeit: Gareth, Ende Praios 1023 BF, im Anschluss an „Namenlose Dämmerung“.
Die Schenke war ein nichtssagender Ort in einem nichtssagenden Viertel von Gareth. Eine ausgetretene Steintreppe führte hinunter in ein Kellergewölbe, das von lautem Stimmengewirr, Rauch und dem Geruch von Bier und Holzfeuer erfüllt war. Die Decke war so niedrig, dass ein jeder auch nur halbwegs hochgewachsene Besucher unwillkürlich den Kopf einzog. Charaktere aller Professionen aus allen Ecken Aventuriens gingen hier ein und aus; niemand schenkte dem anderen sonderliche Aufmerksamkeit, und unter der bunten Schar der Gäste wäre es auch fast schon eine Kunst gewesen, derart aufzufallen, dass man Aufmerksamkeit erregte. Kurzum: Es war der ideale Treffpunkt für jene, die nicht gesehen werden wollten.
Oder wäre es gewesen, dachte der Gesandte grimmig, während er, einen Fuß gegen die Tischkante gestützt, auf den hinteren Beinen seines Stuhles lehnte. Die Nachricht zum Ende des vergangenen Jahres war deutlich gewesen. Wenn Nordegg bis heute nicht aufgetaucht war, würde er es auch nicht mehr tun. Er war gescheitert.
Und zwar so sehr, dass er für sein Scheitern in dieser Welt keine Verantwortung mehr übernehmen musste. Der glückliche Hund.
Finster ließ der Gesandte seinen Blick durch den Raum schweifen. Die Schankmagd wich ihm bebend vor Angst aus und wagte sich nur in seine Nähe, wenn er sie ausdrücklich dazu aufforderte. Wertloses, schwaches Ding.
Drei Tische von ihm entfernt saßen die beiden Thorwaler, deren Gespräch er seit ihrem Eintreten gefolgt war. Natürlich kannten sie dieser Tage nur ein Thema: den verheerenden Angriff der Puderquasten. Selbst in der gefühllosen Brust des Gesandten hatte sich etwas geregt, als ihm die Nachricht zum ersten Mal zu Ohren gekommen war. Thorwal in Flammen – nur einen Stein konnte das kaltlassen. Aber es war längst nicht mehr sein Leben, und er hatte anderes zu bedenken.
Zum Beispiel, wie es nach Nordeggs offensichtlichem Versagen weitergehen sollte.
Nebenbei, er hätte nicht in der Fremde gesessen und große Reden geschwungen, während seine Heimat brannte. Memmen.
Mit einer entschlossenen Bewegung zog er den Fuß zurück und ließ den Stuhl schwer auf alle vier Beine fallen. Er warf eine Münze auf den Tisch, stand auf und ging mit langen Schritten zur Tür. Nur wenige beachteten ihn; die Schankmagd atmete auf, einige Gäste warfen ihm beiläufige Blicke zu. Die Thorwaler waren so sehr in ihre erhitzten Worte vertieft, dass sie ihn nicht einmal bemerkten. Es war gut so, dachte er bei sich. Zwar war er dazu übergegangen, in Gegenwart seiner früheren Landsleute seine Hautbilder bedeckt zu halten und sich als Mittelreicher auszugeben, aber die Möglichkeit, erkannt zu werden, bestand immer noch. Und er schätzte es nicht, Zeugen beseitigen zu müssen.
Einmal sicher auf der Straße, wandte er sich in Richtung seines Quartiers. Ein weiterer nichtssagender Ort. Im Dienste seines Herrn hatte er gelernt, unsichtbar zu sein.
Selbst in einer gewaltigen Stadt wie Gareth kehrte mit fortschreitender Stunde Ruhe ein. Still waren in diesem Winkel der Reichsstadt die Gassen, alle Fenster dunkel. Über der weithin sichtbaren Kuppel des Praiostempels stand das volle Madamal. Schnelle Wolken zogen, windgetriebene weiße Segel, Ungetüme, Riesenvögel flatterten in zerrissenen Fetzen vor der hellen Scheibe vorüber. Mal hüllten sie die Stadt in Finsternis, mal ergoss sich klares Licht weithin über die Dächer, auf denen die Wolkenschatten tanzten. Um die Ecke pfiff der Wind; auf manchem Giebel knarrte eine rostige Wetterfahne. Wasserspeier reckten ihre Köpfe vom Stockwerk in die Gasse. Im schnellen Wechsel des Lichtes schien es, als ob sie augenblicklich größer und lebendig würden. Züngelte dort der schwarze Wurm nicht? Hob den Schlangenleib, sträubte den Kamm und sperrte den Rachen? Doch schon war es wieder finster.
Zwei krummgetretene Stufen führten zur Tür der Herberge hinauf. Der Gesandte trat über die Schwelle. Ein leichter Modergeruch, wie er unbewohnten Räumen oft anhaftet, schlug ihm entgegen. In der Diele war es kalt wie in einer Berggrotte. Das Licht des Madamals brach sich in einem Fenster aus buntem, undurchsichtigem Glas, unter dem eine bemalte Truhe stand, und ließ die Scheibe wie Edelsteine funkeln. Der Gesandte nahm die hölzerne Stiege ins Obergeschoss mit wenigen Sätzen, eilte in seine Kammer und schloss die Tür nachdrücklich hinter sich.
Das Zimmer war spärlich möbliert - ein altmodischer Schrank stand in der Ecke, groß genug, um zwei ausgewachsenen Männern als Versteck zu dienen; dazu gab es noch eine Kommode, ein Lager, einen kleinen Tisch, auf dem ein Krug mit Wasser und eine Schüssel standen. Der Gesandte hätte einen Spiegel bevorzugt, aber für seine Zwecke sollten diese Mittel ausreichen.
Er füllte die Schüssel mit Wasser. Als die Oberfläche wieder glatt und ruhig war, streckte er eine Hand darüber aus und wisperte uralte Worte der Macht, rief die Kräfte an, die sein Herr ihm verliehen hatte.
Der silbrige Wasserspiegel trübte sich. Graue Schlieren durchzogen die eben noch klare Fläche, verdichteten sich und begannen langsam zu kreisen, bis der Inhalt der Schüssel mehr einer Wolkenballung als Wasser glich.
Der Gesandte zischte einen weiteren Befehl. Unvermittelt riss der graue Strudel auf und gab den Blick frei auf einen Reiter auf einem schwarzen Einhorn mit blutrotem Horn. Er wirkte alt, grausam und gnadenlos. Eines seiner Augen ähnelte einem schwarzen Schacht, durch den man die Unendlichkeit zu sehen glaubte. Doch der Gesandte wusste, dass das Auge nicht leer war: Es war das Auge, durch das sein Herr in die Welt blickte. Innerlich erbebend, neigte er den Kopf.
„Nordegg ist gescheitert“, sagte er.
„Ja.“ Die Stimme war bar jeder Wärme, gefühllos und verächtlich. „Das Geheimnis der Feengrotten bleibt uns verborgen. Doch die Elfe und ihre Helfershelfer müssen etwas dort gefunden haben. Geh nach Waldstein. Finde heraus, was sie planen.“
Gehorsam nickte er, und das Bild verschwand.
Seufzend richtete er sich auf und rieb seinen Nacken. Waldstein. Gut. Er verspürte keinerlei Neigung, so schnell in den Norda zurückzukehren. Was gäbe es dort auch für ihn zu tun? Sie hatte alle Diener, die sie brauchte.
Mitternacht war längst vorbei; er sah auf den hellen Streifen, den das Madamal über den Boden warf. Mit schweren Schritten ging er hinüber zu dem Bett und ließ sich darauf fallen. Er wusste, dass er schlafen musste, aber daran lag ihm noch weniger als an einer Rückkehr in die Eiswüste. Manche Nächte war sein Herr gnädig zu ihm. In anderen… nicht so sehr.
Widerwillig streifte er seine Stiefel ab, entledigte sich seiner Lederweste, seiner Tunika mit den breiten Schmuckkanten. Im Halblicht betrachtete er die Zeichnung der Seeschlange, die sich in grünen und schwarzen Linien um fast die gesamte Länge seines rechten Armes wand. Der Kopf mit den tückischen roten Augen und dem zähnestarrenden Maul ruhte auf seinem Handrücken, während ihre geschuppte Schwanzspitze fast das blaue Bild eines Drakkars mit ausgefahrenen Rudern in einem Wellenband berührte, das auf seiner Schulter prangte. An manchen Stellen durchbrachen alte, helle Narben die Hautbilder.
Erinnerungen und Träume. Das einzige, mit dem man ihn dieser Tage noch foltern konnte.
Er wusste, seit er wieder unter Menschen weilte, wie viel Zeit vergangen war, aber wenn ihn jemand gefragt hätte, so wäre es ihm dennoch unmöglich gewesen zu sagen, wie lange er in der Finsternis zugebracht hatte. Es schien, als wäre er sein Leben lang darin gewandert. Doch er erinnerte sich an eine andere Zeit, eine Zeit vor der Finsternis, eine Zeit, in der er aufrecht seinen Feinden ins Auge geblickt hatte und frei gewesen war, sein eigener Herr. Es waren bittere Erinnerungen, denn sie gemahnten ihn an alles, was er verloren hatte – weggeworfen, aus einem nutzlosen Stolz heraus.
Stolz! Sein Stolz hatte ihn nicht beschützt in den Ewigkeiten der Höllenqualen, zu denen sie ihn verurteilt hatte. Wie lange war ihm daran gelegen gewesen, sich nicht kampflos zu ergeben. Er hatte gekämpft in seinem lachhaften Stolz, zu ihrer Genugtuung, denn es gab ihr nur umso mehr Anlass, ihre Fertigkeiten an ihm zu erproben.
„Deine dumme kleine Revolte war erfolgreich, mein Freund“, hatte sie zu ihm gesagt, ihre Stimme glockenhell und lockend, zugleich unvorstellbare Freuden und ungeahnte Qualen versprechend. „Phileasson hat es geschafft. Ich hoffe, er weiß zu würdigen, was du für ihn auf dich nimmst.“ Fast liebevoll hatte sie die Fesseln berührt, die ihn hielten. „Aber ich vergaß – dein Plan war es, in heldenhaftem Kampf zu fallen.“ Sie zeigte ihr betörendes Lächeln, das ihre goldenen Augen nicht erreichte. „Inzwischen hast du es begriffen, nicht wahr? Für jemanden wie dich gibt keine Heldenhaftigkeit. Es gibt nur Leben und Tod, und du, mein Freund, bist am Leben. Also wirst du, aus eigener Wahl, am Leben bleiben. Warum auch musstest du dich gegen mich stellen? Warum konntest du dein Schicksal nicht einfach hinnehmen? Alles wäre vorüber. Stattdessen…“
„Du musst verrückt sein“, knurrte er hasserfüllt, „wenn du geglaubt hast, ich würde keine Rache nehmen für das, was du getan hast!“
Sie hob ihre eleganten Augenbrauen in gespielter Verwunderung. „Was ich getan habe?“ wiederholte sie. „Wenn ich mich recht erinnere, beruhte unsere Zusammenarbeit auf einer Übereinkunft.“
Er lachte harsch auf.
„Und Rache“, fuhr sie fort. „Von welcher Rache sprichst du? Du und dein o so ehrenhafter Gegner habt mir eine Niederlage zugefügt, das ist wahr. Aber im großen Zusammenhang gesehen bedeutet sie nicht viel. Ich habe eine Spielfigur verloren. Ich werde sie ersetzen.“ Ihre Fingerspitzen streiften federleicht sein Gesicht, und er musste sich zwingen, nicht zurückzuzucken. „Eines Tages“, erklärte sie in ihrer lockenden Stimme, „wirst du ein gutes Werkzeug meines Herrn sein. Doch du hast mich verärgert, mein Freund. Traurig. Ich hätte dir die Herrlichkeit des All-Einen zeigen können, ohne Schmerz, ohne Qual, nur ein sanftes Hinübergleiten. Nun… nun will ich, dass du freiwillig zu mir kommst.“ Sie machte eine ausholende Handbewegung, die den Raum einschloss. „Hier hast du schon einmal erfahren, wie geschickt mein Volk darin ist, Schmerz zuzufügen. Du glaubst, du seiest gewappnet. Lass dir versichert sein: Du hast keine Vorstellung davon, was Schmerz ist. Wie lange du ihn ertragen wirst, liegt ganz bei dir.“
Natürlich hatte sie recht gehabt. In den Äonen der Folter, in denen ihm jedes Zeitgefühl abhanden gekommen war, hatten sie und ihre Knechte ihn genüsslich Stück für Stück gebrochen. Alles, was von ihm blieb, war Hass – Hass auf Pardona, Hass auf Phileasson, auf die Welt, auf sich selbst für seine Dummheit, die Elfenhexe herauszufordern. Hass auf Travia, die, als er in den Stunden, Wochen oder Jahren größter Not nach ihr schrie, mit Schweigen antwortete.
Irgendwann hatte er begriffen, wie unbedeutend alles war, an das er sich so lange geklammert hatte. Weder die Göttin noch sein Stolz konnten ihm helfen, und Erlösung durch den Tod hielten die geschickten Hände und Zaubereien Pardonas und ihrer dämonischen Helfershelfer ihm immer wieder verlockend vor Augen, um sie ihm im letzten Moment zu entziehen. Nein, was allein zählte, war die Macht, sich aus dieser ewigwährenden Qual zu befreien. Und so hatte er seinen Nacken gebeugt, war vor Pardona und ihrem Gott im Staub gekrochen und war reich dafür belohnt worden. Wenn er nun auch ein Sklave war, er nannte die Macht eines Königs sein eigen.
Der Entschlossene nahm sich, was er wollte, oder er verdiente es nicht. Das war immer die Grundlage seines Handelns gewesen. Warum hatte er so lange gebraucht zu erkennen, dass er seinem neuen Herrn durch das Befolgen dieser seiner Lehre schon sein halbes Leben lang gehört hatte?